Perception is never passive. We are not only receivers of the world; we also actively produce it. There is a hallucinatory quality to all perception, and illusions are easy to create.
Siri Hustvedt
Es ist mir aufgefallen, daß es eine starke Verbindung gibt zwischen What I Loved und A Little Life: Beide Romane sind aus der Sicht ihrer männlichen Protagonisten erzählt. Außerdem nimmt die Darstellung einer Künstlerseele großen Raum ein, genau wie die präzise Darstellung des Kunst-betriebs. Und die beschriebenen Gemälde und/oder Installationen enthüllen entweder das Innere des Künstlers selbst oder das der Porträtierten.
Für mich als Ohrenmensch erstaunlich: Der Impakt des Visuellen auf die beschriebenen Personen ist größer, d.h. tiefgreifender, als ich mir das vorstellen konnte. Ich dachte immer, dass das zu Hörende per se tiefer reicht als das zu Sehende. Aber das ist wohl nicht immer so.
Obwohl es eigentlich um Essays gehen soll, im Folgenden einige Gedanken über das »kleine Leben«, so groß und episch - auf über 700 Seiten - dargestellt - es darf ja mäandert werden: Zuerst dachte ich, nach euphorischen Kommentaren zu To Paradise: nein, nicht schon wieder eine Dystopie. Aber dann hat Verena, meine Partnerin, das Buch zu lesen begonnen und war tief beeindruckt, über einen langen Zeitraum, denn das Buch ist ja, wie gesagt, auch ziemlich lang. Dieses Ergriffensein hat mich angesteckt. Und tatsächlich war ich dann, schon nach kurzer Zeit, fast ein wenig sprachlos. Was mir, zumindest bezogen auf Literatur, so gut wie nie passiert. Die Lektüre dieses Romans geht eindeutig über das hinaus, was frau/man gemeinhin als literarische Erfahrung bezeichnet, die, auch wenn sie stark ist, nie den Bereich Literatur verlässt. Ein Bereich, der zwar ungeheuer wichtig ist in meinem Leben, aber eben auch ein Bereich, der, obwohl er meine Gedanken berührt, verändert, anregt etc., letztlich getrennt bleibt von den Erfahrungen, die ich sonst mache. Es gibt zumindest irgendeine Form von Trennwand, und das nicht, weil die Wirklichkeit dieser anderen Erfahrungen mir wirklicher vorkäme als die von Literatur - für mich gibt es da keine Hierarchie -, sondern weil es einfach ein anderer Bereich ist, so wie die Musik oder der Film. Bei Frau Yanagihara aber hat das Gefühl, das die Lektüre hervorrief, die gesamte Stimmung dieser Tage durchzogen, es ist quasi in das sogenannte alltägliche Leben hineingesickert, seine Präsenz angesichts all der psychologischen wie physischen Verstümmelungen, Verknotungen, Blessuren und Läsionen ließ nicht nach, das Leiden des Protagonisten hat mich nahezu physisch erreicht. Es ist mir nicht erinnerlich, ob mir das überhaupt jemals passiert ist. Ein wahrlich wuchtiges Buch und in seiner strukturellen Anlage, Architektur, seiner Komposition und dem dafür nötigen langen Atem durchaus mit The Golden Bowl von Henry James vergleichbar, zumal auch hier das Geschehen aus zumindest zwei unterschiedlichen Blickwinkeln referiert wird; aber auch mit Middlemarch von George Eliot.
Einzelne Erzählstränge werden erschöpfend dargestellt, bis, eine gefühlte Ewigkeit später, der jeweilige Strang, noch genauer und feiner ziseliert, weitergeführt wird.
Dann gibt es Momente, in denen frau/man eine Formulierung 30 Seiten zuvor erneut Revue passieren lässt, weil inzwischen die dazugehörigen Details beschrieben wurden: und rück-blickend betrachtet erscheint dann diese Formulierung auf einmal extrem simplifizierend, und es wird einem klar, welch eine Riesenanzahl von verschiedenen Möglichkeiten, Szena-rios sich hinter dieser Formulierung verbergen können.
Und schließlich etwas extrem Erstaunliches: die Geschichte in all ihren Verzweigungen erscheint abwechselnd mal als utopisch, mal als entsetzlich und kaum auszuhalten - ebenfalls ein Auslöser der oben beschriebenen karthatischen Wirkung. Die Lebendigkeit der sozialen Blase, in der sich die Hauptfigur Jude bewegt, steht in einem äußerst krassen Missverhältnis zu seinem fundamentalen Seelen- und psychologischen Zustand. Nie würde frau/man denken - vorausgesetzt, frau/man kennt nur eine Seite der Medaille -, dass es auch eine andere gibt, die der anderen diametral entgegengesetzt ist.
Überhaupt läßt sich vielleicht sagen, dass die Intensität der beschriebenen Bereiche - der Freundschaft, der Empathie und der Liebe einerseits und die der Torturen und Folterungen andererseits - in der Intensität des Stils gespiegelt wird, darin, wie präzise, ausführlich und unerbittlich der Werdegang der Hauptfigur beschrieben wird.
Erst, als ich halb durch war mit der Lektüre, ist mir aufgefallen, dass noch ein dritter Roman den Kreis der Affinitäten erweitern könnte: Auch in Other People's Clothes von Calla Henkel, dem Debüt einer noch jungen amerikanischen Autorin/Künstlerin/Regisseurin, die in Berlin lebt, wird der Kunstbetrieb kritisch unter die Lupe genommen. Überdies fangen alle drei Romane mit der Darstellung künstlerischer Arbeit selbst an, um sich dann der Vermittlung von Kunst zuzuwenden, die in Henkels und Hustvedts Fall dazu führt, dass frau/man die Romane streckenweise auch als Krimi lesen kann.
Kommentare sind wie immer willkommen.
now@stefan-hardt.com
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